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Die Tradition der Spielleitplanung oder Emile und die Naturerfahrung

Hermann-Josef Ehrenberg

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Thomas Gainsborough
(1727- 1788) Die MarshamKinder
1787 Öl auf Leinwand
(242, 9xl 81 ,9 cm).
Staatliche Museen Berlin, Gemäldegalerie.
Foto: P. Anders, Berlin

„Die Entdeckung der Kindheit" war der Titel einer Ausstellung, die im Sommer 2007 im Städel Museum Frankfurt/Main stattfand. Sie zeigte die kunstgeschichtliche Entwicklung des Kinderportraits in England und auf dem europäischen Kontinent. Im Mittelpunkt der Ausstellung stand das Bildnis der Marsham-Kinder (1787) von Thomas Gainsborough. Die Portraits repräsentieren in anschaulicher Weise den gesellschaftlichen und ästhetischen Bedeutungswandel der Kinder jener Zeit und sind zugleich auch Spiegel der soziologischen und pädagogischen Entwicklungslinien von der Aufklärung bis in das 19. Jahrhundert. Ein wesentlicher Aspekt dieser Kindheitsgeschichte ist die Naturerfahrung, die mit dem Instrument der „Spielleitplanung" seit Jahren Teil des politischen Programms der Landesregierung in Rheinland-Pfalz ist und stlbst in der neuesten naturschutzfachlichen Literatur propagiert"! wird.

Die Entdeckung des Kindes als Individuum

Unter sozial historischen Gesichtspunkten wird die Idee der Kindheit mit der Entdeckung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert und mit der Notwendigkeit des schulischen Lernens ursächlich verknüpft'!. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erschienen zahlreiche Schriften, die den Stellenwert des Kindes in der allgemeinen Wahrnehmung vollkommen neu definierten. Spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurden ungezwungenes und spielerisch-fröhliches Lehren und Lernen programmatische Erziehungsideale. Diese Prinzipien gingen eigentlich auf die Schriften des englischen Philosophen John locke (1632- 1704) zurück, der die al lmählich heranreifende Idee des Kindseins als Richtschnur pädagogischen Handelns verstand2l. Das kindliche Wesen wurde als eigenständiges, gleichwohl schutzbedürftiges Individuum erkannt. Nun sollte beispielsweise die Mutter selbst wieder die traditionelle Amme ersetzen, damit sehr früh schon eine persönliche, insbesondere mütterliche Beziehung gestärkt wurde. Diese /deale widersprachen dem damals noch verbreiteten Zeitgeist eines affektierten Gehabes in der Öffentlichkeit, mit dem Kinder allenfalls das Aussehen und das Auftreten von Erwachsenen kopierten. In besonders subtiler Weise hat Pieter Breughel dies in seinem Bild .Kinderspiele" (1560)31 veranschaulicht Dort werden vor dörfl ich-kleinstädtischer Kulisse zahlreiche spielende Kinder dargestellt, die dennoch alle die Kleidung Erwachsener tragen. Darüber hinaus hat Brueghel sie eingebunden in einen formal-ästhetischen Bildkontext mit tief philosophisch-theologischer Deutungsebene•l.

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Jens Juel (1745-1802) laufender
Junge 1802. Öl auf Leinwand
(180,5 x 126 cm)
Statens Museum for Kunst,
Kopenhagen/Dänemark.
Foto: SMP Photo

Aufgeklärte Erziehung

Die aufgeklärte Wertschätzung der Kindheit spiegelte sich in einem neuen Erziehungsprogramm wider, das speziell auf kindliche Bedürfnisse und Empfindungen einging. Man wusste, dass das Spiel draußen, im Freien für Körper und Gesundheit besonders gut ist; darüber hinaus zeigte sich, dass die Spielfreude das schulische Lernen erheblich vereinfachte.
In Deutschland, speziell im Fürstentum Anhalt-Dessau, entfaltete sich eine pädagogische Bewegung, die ein philanthropisches Erziehungskonzept verfolgte. Bedeutende Pädagogen wie Johann Bernhard Basedow (1724-1790) arbeiteten für eine „Schule der 10 Stadt+Grün 1/2009 Menschenfreundlichkeit", die Lebens- und Erfahrungsrilum für Kinder und Jugendliche war. Diese Geisteshaltung wird in besonderer Weise in dem anmutigen Portrait des Jungen auf dem Weg zur Schule (Ausst. Kat. 2007) sichtbar.
Die theoretischen Schriften der Philanthropen waren beeinftU$St von den Philosoph ien der Aufklärung, darunter den Anschauungen Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778). Dieser hatte mit seinem Roman „Emile" (1762) auf literarischer Ebene eine andere pädagogische Philosophie der Aufklärung fo rmuliert. Im Gegensatz zur ganzheitlichen Idee John Lackes oder der deutschen Pädagogen reduzierte er das Kind auf ein Naturwesen, das an sich und zunächst nur gut ist. Erst die gesel lschaftliche Prägung beeinträchtige den Charakter der Menschen. Deshalb propagierte Rousseau eine Erziehung, die die ersten 25 Lebensjahre abseits jeglicher gesellschaftlicher Zivilisation ausschließlich in einer altersgemäßen Art und Weise erfolgen sollte. Der junge Mann(!) sollte dem idealen Naturmenschen möglichst lange ähnlich bleiben5I und erst unter erzieherischer Anleitung auf die gesellschaftlichen Herausforderungen vorbereitet werden. Rousseau formulierte natürliche, kindgemäße Erziehungsprinzipien, die Eitelkeiten, Herrschsucht und Lügen ausschlossen und die elementare Menschlichkeit des Kindes betonten. Während die deutschen Pädagogen der Zeit die kindliche Neugier förderten und ein spielerisches Lernen der Naturwissenschaften, Sprachen, der Musik und des Sports mit großem Erfolg favorisierten, reduzierte Rousseau das Kind zu einem unvollständigen Rumpfwesen, das nach sei ner Ansicht den paradiesischen Urzustand des guten Naturmenschen widerspiegelte. Erst die exklusive Erziehung durch Pädagogen sollte das Kind zu einer altersgemäßen Emotionalität, Rationalitä~ Sexualität und Sozialkompetenz führen6I.
Zwar können aus moderner Sicht diese direktiven Prinzipien als ein autoritäres Erziehungskonzept mit allen Risiken des Missbrauchs gedeutet werden, auf jeden Fall aber vermitteln sie eine starke emotionale Nähe zu Natur und Landschaft. lnsofern spiegeln die künstlerischen Portraits den pädagogischen Zeitgeist wider. Die Marsham-Kinder sind in der Bewegung eingefangen worden. Weite und bequeme Kleidung signalisiert ein ungezwungenes und dynamisches Spiel. Zwei Hunde sowie die umgebenden Gehölze und Gräser sind elementare Teile des Bildes und stehen in engem körperlichem Kontakt. Es fehlen Gebäude, sonstige örtliche Bezüge oder gar Spielgeräte. Vielmehr stehen die Kinder in einer vom Wind geneigten Strauchgruppe, in der der Junge über die beige Farbigkeit von Weste und Hose mit dem Gehölz zu verschmelzen scheint (Ausst. Kat. 2007).

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Alma Sicdhoff-Buscher
(1899-1944), Bauspiel 1923.
Replikat bei www.markanto.de
Bildquelle: Markanto Janas Et
Vorderstrasc

Die Überhöhungen und Verklärungen der Kindheit in der romantisierenden Welt des 19. Jahrhunderts standen im krassen Kontrast zu den materiellen und physischen Lebens- und Umweltbedingungen der rasch wachsenden Industriegesellschaft. Eine so dargestellte Kindheit war damit eigentlich nur ein „gesellschaftliches Kunstprodukt", das mit der tatsächlichen Umwelt, mit Kinderarbeit und formalisierter Autoritätsschule nichts gemein hatte7I. Die physischen Defizite einer verarmten Massengesellschaft konnten die Missstände nicht auffangen, sondern beschleunigten und verschärften vielmehr die gesellschaftliche Not. Sie veränderten die traditionellen Spielregeln der früheren Gesellschaft vollkommen und polarisierten Öffentlichkeit und fami liäre Privatheit"l.
Im gehobenen Bürgertum lebten aber die aufgeklärten Erziehungsideale weiter und wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der .Reformpädagogik" in einer breiten lebensreformerischen Bewegung fortgeführt91. Hierbei spielten die Kunst und zah lreiche Künstler eine erhebliche Rolle. Ganz im Geiste der Neugestaltung von Kultur und Leben fanden auch alltägliche Dinge eine neue, industriekritische Form. Insbesondere die Bauhaus-Prinzipien prägten das Kinderspielzeug, das in der Form einfach, unverwirrend und klar war, gleichwohl es das Kind zu vielfältigen und reizvollen Zusammenstellungen und Verwendungen anregen sollte 101.
Ohne diese sozialpädagogischen Ideen und die bildungs- und kulturkritischen Ansätze des neuen Jahrhunderts sind die Prinzipien von Schule und Erziehung nach 1945 nicht denkbar111. Die Förderung des Individuums und die Stärkung der sozialen Kompetenz wurden zum pädagogischen Leitmotiv, wobei vor allem die musischen und sportlichen Anleitungen die ideale der Lebensreform fortsetzten.

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homo ludens
Foto: H. Ehrenberg

Leitbilder kindgerechter Stadtplanung

Der kindgerechte Freiraum, die Begegnung mit und in der Natur wurden zum Ideal einer gesunden, kind- und jugendgerechten Lebensführung propagiert. Dort wo er nicht mehr in ausreichendem Maß und in angemessener Qualität vorhanden war, musste Planung ihn schaffen. Mit Blick auf die nicht im Krieg zerstörten Nachbarländer entstanden mit den Neubausiedlungen auch Spielplätze.
1967 gab die schwedische Regierung eine Untersuchung in Auftrag, welche die Gestaltung der Umwelt in den Siedlungen unter spezieller Berücksichtigung von Kindern zum Gegenstand hatte 121. Die Untersuchungsergebnisse mündeten in ein anspruchsvolles Konzept, das forderte
- dass sämtliche städtebaulichen Verkehrsund Wohnbauprojekte hinsichtlich ihrer kindgerechten Freiraumqualitäten zu überprüfen seien,
- dass freiraumspezifische Begleitpläne obligatorische Bestandteile der Plan- und Baugenehmigung werden sollten,
- dass Größe und Anordnung von Spielflächen über Richtlinien in die Stadtplanung und Bauordnung systematisch Berücksichtigung finden müssten.
Ausgehend von den skandinavischen Erfahrungen bestimmte seit Ende der 60erJahre bis in die 70er-Jahre hinein der selbstbestimmte, kreative Lernimpuls die Spielkonzepte. Einerseits hatte man die Beobachtung gemacht, dass die zunehmende Verstädterung und Technisierung des Wohnumfeldes den kindlichen Erlebnisraum gefährdeten, andererseits entsprachen die klassischen Kinderspielplätze mit normierten Spielgeräten und eingegrenztem Bewegungs- und Gestaltungsraum nicht den elementaren Sozialisationschancen und Explorationsbedürfnissen zwanglosen Kinderspiels. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass erst eine anregende Umgebung zur nachhaltigen kognitiven Entwicklung beiträgt. Die spielerische Begegnung mit und in der Natur wurde zum Ideal einer gesunden, kindgerechten Lebensführung.

Landschaftsarchitektur und pädagogische Verantwortung

Die sozialräumliche Freiraumplanung in Deutschland ist von den skandinavischen Studien maßgeblich beeinflusst worden. Ein vernetztes System zusammenhängender Spielbereiche hat den isolierten Spielplatz in ein übergeordnetes Freiraumsystem eingebunden. Das gesamte Wohnumfeld wurde als Spielumgebung verstanden, sozusagen ein spielerischer „Streifraum"131 mit gefahrlosen Übergängen untereinander. Nicht den vorstrukturierten Spielbereichen wurde die größte Attraktivität zugesprochen, sondern denen, die keine oder nur wenige herkömmliche Festlegungen und Einrichtungen für das Kinderspiel aufweisen 141. Vor allem die wohnungsnahen Eingangsbereiche, der nahe Straßenraum bzw. Bürgersteig, Wohnwege, Treppen und Rampen sind bevorzugte Spielräume. Dieses wurde in einer deutschen Studie vertiefend behandelt15I und für die Freiräume im Geschosswohnungsbau spezifiziert161. Insbesondere die so genannten Abenteuerspielplätze, auch Bau-, Aktiv- oder Robinsonspielplätze genannt, waren seinerzeit beliebte Angebote. Sie waren für das kreative und selbstbestimmte Gestalten gedacht. Über eine Alternative wurde schon früh aus Wien berichtet, wo aufgelassene Steinbrüche bewusst als „Naturspielanlage" ausgebaut und angeboten wurden 171. Bereits damals wurden zugleich Forderungen nach regelmäßiger Pflege und Werthaltung der Flächen sowie einer mehr oder weniger regelmäßigen pädagogischen Betreuung formuliert.
Selbstverständlich waren diese Konzepte nicht für alle Kinder gleichermaßen geeignet. Vielmehr waren diese Planungen stets auch begleitet von Untersuchungen über das spezifische Verhalten unterschiedlicher Altersgruppen und Leistungsstärke'~- Jede kindliche Entwicklungsstufe drückt sich in verschiedenen Aktivitäten und Aktionsradien aus. Insofern muss der jeweilige Ausstattungscharakter auch die konkreten räumlichen und sozialen Wohnumwelten berücksichtigen. Zusammenfassend besagen die Ergebnisse der Studien,
- dass Besuchsfrequenz und Nutzungs- • dauer von Schulkindern auf konventionellen Spielplätzen vergleichsweise gering sind,
- dass insbesondere dann diese Spielplätze gering geachtet werden, wenn in unmittelbarem Wohnumfeld alternative Aufenthaltsbereiche vorhanden sind,
- dass informelle Ausstattungsgegenstände und bewegliches Spielmaterial die Nutzer- und Aufenthaltsfrequenz hingegen steigern,
- dass „Abenteuerspielplätze" vielfältigere und abwechslungsreichere Aktivitäten und Verhaltensweisen der Nutzer ermöglichen,
- dass .Abenteuerspielplätze" von allen Altersgruppen (drei Jahre bis 20 Jahre) besucht werden, schwerpunktmäßig aber den 8- bis 14-Jährigen die attraktivsten Aktivitäten ermöglichen.
Dass derartige kindgerechte Raumangebote neue Freiraumdefinitionen und Strategien erforderten, spiegelte sich nicht nur in den „Abenteuerspielplätzen" wider. Die Öffnung von Freiflächen im öffentlichen Raum, die Ausweisung verkehrsberuhigter Spielstra- 12 Stadt+Grün 1 /2009 Ben, die Weiterentwicklung der grünbestimmten Freiräume nicht nur für das Kinderspiel, sondern auch - mit klarem Aufforderungscharakter - für begleitende Eltern und andere Erwachsene zielten darauf ab, komplexe Spielabläufe durch differenzierte räumlich-physische Gegebenheiten zu initiieren und im gelingenden Fall durch die Integration interessierter Erwachsener zu sichern.
Die Untersuchungen im Geschosswohnungsbau hatten ergeben, dass die Akzeptanz des Kinderspiels im wohnungsnahen Freiraum in erheblichem Maße vom Verständnis der Erwachsenen abhängt. Während die kritischen Anwohner den kinderbedingten Lärm und Schmutz, den Aufenthalt von Kindern generell beklagten, wünschten sich andere wiederum eine gezielte Qualifizierung des Spielangebotes, wobei ihre Anregungen schwerpunktmäßig auf eine Verstärkung grünbestimmter Freiräume abzielten, um eine abwechslungsreiche Nutzung zu ermöglichen.
Diese Planungskonzepte und die Umsetzung selbst konnten deshalb nicht ohne eine frühzeitige Beteiligung aller Betroffenen einschließlich der Kinder erfolgreich sein. Hi erzu hat es bereits sehr früh Erfahrungsberichte 1•1 gegeben, wobei neben der Integration pädagogischen Sachverstandes eine umfassende Bestandsaufnahme sowohl der räumlichen als auch der sozialen Einflussfaktoren im Untersuchungsgebiet als Voraussetzung proklamiert wurden20I.

Die Ideologie der Naturerfahrung

Während in den 60er- und 70er-Jahren vorrangig die psychologischen und soziologischen Aspekte der sozialräumlichen Freiraumplanung zugrunde lagen, hat in den achtziger Jahren der Aspekt der „Naturerfahrung" 211 die klassischen Postulate der Natürlichkeit wieder aufgegriffen. Ein diffuses Leitbild von Naturnähe sollte ,,Umweltbewusstsein schulen und ökologische Verantwortung vermitteln"22I. Darüber hinaus wurde diesen Spielbereichen ein gewisser Abenteuerfaktor zugesprochen, der durchaus auch ein Risikoerlebnis, möglicherweise eine Grenzerfahrung dulde (ebd.). Das Konzept beruht auf der Annahme, dass Kinder die Erfahrung wilder Naturflächen brauchen, in denen freies Erleben und uneingeschränkte Gestaltungsmöglichkeiten die eigenständige Naturbegegnung ermöglichen.23I Nach Ansicht von Gebhard (2003) handelt es sich dabei um eine speziell kindliche Wahrnehmungskompetenz, die als Primärerfahrung ein psychologischer Schlüssel für Identität, Lebensgefühl und Urvertrauen ist24I. Insofern zählen nicht nur die persönlichen, zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern gleichermaßen auch die Wechselwirkungen mit Tieren und Pflanzen, mit Häusern, Landschaften usw. zu den anerkannten Prägekräften der kindlichen Entwicklung25I (ebd.). Bei der Neuaufstellung des Landesnaturschutzgesetzes 2005 hat das Bundesland Rheinland-Pfalz die Ergänzungsoption (§ 2(3) BNatSchG) dazu genutzt, die politische Zielsetzung eines „Kinderfreundlichen Rheinland-Pfalz" mit der Forderung nach naturnahen Flächen, die als Spielraum und für die Naturerfahrung der Kinder geeignet sind, in die Grundsätze von Naturschutz und Landschaftspflege einzubeziehen. Das landesweite Programm zur Förderung des kindgerechten Freiraumangebotes ,,Spielleitplanung" greift diesen Aspekt auf und postuliert vor allem die „naturnahen Erlebnisspielangebote" als ein wesentliches Qualitätsziel der Spiel-, Erlebnis- und Aufenthaltsräume für Kinder. Dabei handelt es sich zumeist um weiträumige Bereiche mit natürlichem Aufwuchs am Siedlungsrand. Kinder gestalten und bauen mit vorhandenen oder zusätzlich angebotenen Materialien und nutzen Teilräume als Treffpunkte und Rückzugsräume261. Dabei handelt es sich explizit nicht um betreute „Abenteuerspielplätze".
Die positive Proklamation der kindlichen ,,Naturerfahrung als Wunsch nach Vertrautheit und Neugier"27J hatte ihren umweltpolitischen Beginn in einer umfangreichen Studie zur Neuentwicklung einer Flächenkategorie für Naturerleben gefunden" l. Deren Ziel war es, mit der Flächenkategorie . Naturerfahrungsräume" eine
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Schwerkräfte, Wasserkräfte und Fliehkräfte
Fotos: H. Ehrenberg

raumstrukturelle Alternative zu Schutzgebieten bzw. lntensivla ndschaften anzubieten, um das Dilemma unverständlicher Dichotomie von Naturschutz und Landschaft einerseits und Freizeit- und Erholungsbedürfnis andererseits, aufzuheben. Es wurde nämlich beklagt, dass trotz umfangre icher Sachdaten die Mensch-NaturBeziehung nicht die erhoffte Festigung erfahren hat. Vielmehr wurde verwundert festgestellt, dass naturwissenschaftliche Fakten emotionale Bindungen verdrängt und Natur und Landschaft zu einem abstrakten, funktionalisierenden Konstrukt gemacht haben (ebd.).
Es liegt in der Natur der Sache, dass naturwissenschaftl ichen Disziplinen emotionale Bewertungskategorien fehlen. Eine ästhetische Wahrnehmung des Atmosphärischen, eine Bewertung von Zeichen und Symbolen müssen einer naturwissenschaftlichen Grundlagendisziplin und somit konsequenterweise den Bearbeitern fern liegen. Weil die Planung von Natur und Landschaft aber immer stärker unter das fachliche und persönliche Primat biologischer bzw. ökologischer Fragestellungen und Kompetenzen gestellt worden ist, ist die Bedeutung der gestalterischen Komponente geschwunden, und damit ästhetische Wahrnehmung und Wertschätzung sowie emotionale Identifizierung mit Eigenart und Schönheit der Landschaft verloren gegangen. Deshalb ist es durchaus berechtigt, ,,Naturerfahrungsräume" außerhalb der Naturschutzgebiete oder intensiv genutzter Freiflächen in Stadt und Land anzubieten, die lustbetontes und nach haltiges Landschaftserleben ermöglichen. Die Übertragung dieses Konzeptes auf die Spielangebote für Kinder kommt sicherlich einer speziellen kindlichen Wahrnehmungskompetenz entgegen. Maßgeblich aber für eine gelingende Naturerfahrung sei die Ungezwungenheit, die Ungebundenheit für die Entdeckung und Aneignung von Natur und Landschaft. Entscheidend ist diese Freiheit, die das kindliche Bedürfnis nach physischer und ästhetischer Erfahrung stillt. Spezielle Aufmerksamkeit haben innerstädtische Brachflächen gewonnen, die als besonders geeignete Erfahrungsräume angesehen werden 29l, weil sie wesentliche Antworten auf kindliche Bedürfnisse geben können:301
- Natur verändert sich, dennoch gewährt sie Kontinuität,
- Natur ist nachhaltig, sie bietet Vertrautheit und Sicherheit,
- Natur ist vielfältig, sie regt die Fantasie an,
- Natur ist zugänglich, sie stillt die Sehnsucht
nach Entdeckung und Abenteuer (ebd. S. 104f.).
Dennoch bleibt die Frage offen, ob es dann unbedingt „Natur" sein muss, die diesen Ansprüchen genügen kann. Es wird in den Studien durchaus bestätigt, dass auch ,,Stadt" fordernde, kultivierende und anregende Wirkungen haben kann. Es ist nämlich der „Frei"-Raum, der freie, zugängliche (verfügbare) Raum im eigentlichen Wortsinn, der die Natur für Kinder so interessant macht. Die Klage über die mangelhaften Angebote und unzureichenden Ausstattungen der Freiräume ist also nicht unbedingt ein Petitum für Wildnis und Abenteuer, für ruderale Brachflächen und ungeplante Außenräume, sondern eine oftmals berechtigte Kritik an der Gestaltqualität von Freiflächen und der Gestaltungskompetenz der Naturschutzideologie.

Sozialverträglichkeit des Freiraums

Deshalb bleibt es ein immer wieder gültiges Postulat, dass die funktionale und gestalterische Qualität des „sonstigen" Freiraums für die Bedürfnisse der Kinder zu verbessern ist. Die Nutzungsmuster, die ästhetischen und sozialen Prioritäten insbesondere im Wohnumfeld der Kinder müssen neu gewichtet werden. Eine ideologisierte Naturpräferenz, das Wildnis-Leitbild in städtebaulichen Spielleitplanungen, deuten - unabhängig von Haftungspflichten und Eigentumsfragen - die tatsäch lichen Grundbedürfnisse und das „Spiel als kulturelle Universale"31l einseitig um. Vielmehr knüpft diese Ideologie an die Gesellschaftskritik und eine Naturverklärung Rousseau ·sehen Zeitgeistes an, die mit der gegenwartsbezogenen Reformpädagogik schon lange weiterentwickelt worden war. Die zentralen Erkenntnisse der psychologischen Kinderspielanalyse lassen sich für die freiraumplanerische Aufgabenstellung konzentrieren und präzisieren auf das vorrangige Erfordernis relativer Freizügigkeit in gut erreichbaren und sicheren Außenräumen. Es muss sich nicht zwingend um einen ausgewiesenen Spielart mit definierten Beschaffenheitskriterien und haftungsrechtlichen Risiken handeln.
Die Eignung des Ortes bewährt sich allein dann schon, wenn die Flächennutzung einer systematischen Verträglichkeitsprüfung im Sinne politischer Forderungen unterzogen würde, nämlich nicht nur Freiräume wie beispielsweise Spiel- und Sportplätze zu gestalten, sondern auch ungenutzte Räume verfügbar und erreichbar zu machen.32l
Mit dieser Forderung wäre konsequenterweise eine Prüfung der Sozial- und Gesundheitsverträglichkeit von Planungsfolgen verbunden33I, wie sie für die Umweltschutzgüter spätestens seit Novellierung des Baugesetzbuches 2001 regelmäßig Beachtung gefunden hat. Diese systematische Integration spezieller Bedürfnisse in die räumliche Planung, das obligatorische, integrative Abwägungsgebot und die Begründungspflicht stellen die sozialen (Kinder-)Belange auf eine Ebene mit den sonstigen Abwägungsbelangen und geben ihnen ein regelmäßig stärkeres Gewicht als eine wohlmeinende Leitplanung mit fraglichen Anknüpfungen an die eingeführte Planungshierachie und Rechtssystematik. Im Grunde knüpft diese Forderung an den engagierten und seinerzeit innovativen Ansatz der schwedischen Freiraumplaner und Pädagogen an. Wie dringlich und aktuell diese Forderungen auch heute noch sind, hat Susanne Gaschke vor wenigen Jahren dokumentiert.341 In Fortsetzung der Befunde der frühen BOer-Jahre hat sie auf die neuzeitlichen sozialen und persönlichen Stressfaktoren von Kindern und Kindheit verwiesen. Sie hat die dramatische Prognose von Postman (1983) über den alles bestimmenden Medieneinfiuss auf die Kinder-Erwachsenen-Beziehung aktualisiert. Sie fordert fundamentale Rechte für die Kinder, die eigentlich aber Pflichten der Erwachsenen sind. Damit sind zwar auch die pädagogischen Fachkräfte diverser Freizeit- und Spieleinrichtungen gemeint, aber letztlich ist es die Familie, in denen Eltern ihren kindlichen Kindern die relative Freizügigkeit bieten können müssen, die ihnen sowohl sichere Vertrautheit ist als auch neugieriges Suchen und Entdecken ermöglicht.
Ob eine Neudefinition und Wertschätzung auch des Erwachsenenspiels351 zu qualifizierten Freiraumsystemen im Wohn- und Lebensumfeld führen können, bedarf einer gesonderten Betrachtung. Auf jeden Fall ist die klassische Auseinandersetzung mit dem Spiel361 nach wie vor von erheblicher und nachhaltiger soziokultureller Bedeutung. Eine Ideologisierung auf naturnahe Spielräume reduziert die Komplexität der Spielfunktion und verhindert eine strategische Planung, über die Erfordernisse der Kindheit und der Kinder ganzheitlich aufzuklären und sie in das Gesellschaftsbild zu verankern.

zahlreiche Quellen und Anmerkungen veröffentlicht in Stadt+Grün 1/2009