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Von der Barrierefreiheit zur Inklusion
Praxis und Berufsethos – eine Versuchsanordnung
Klausurtagung Architektenkammer Rheinland-Pfalz am 16.07.2021 Kloster Hornbach
Auszug aus Tischvorlage ...
mit Rückblick auf Regional-Tagung am
18.03.2021
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Regionalkonferenz Inklusion und Wildnis
Nach mehrfacher Beratung in einem kleinen Vorbereitungskreis zusammen mit Herr Rösch (Landesbehindertenbeauftragter MSAGD) sowie den Damen Renn-Dietrich und Müller (AK RP) ist ein Programm entwickelt worden, das- einerseits die von Ehrenberg mehrfach propagierte Grundidee Inklusion und Wildnis aufgreift,
- andererseits die durchführungspraktische Erreichbarkeit von Referenten und Zielgruppen berücksichtigt.
Nicht zuletzt das personelle und technische Equipment, das nur mit Hilfe der bundesministeriellen Finanzen gestemmt werden konnte. Danke noch mal an alle Unterstützerinnen und Unterstützer, die mittelbar oder unmittelbar beteiligt gewesen sind.
Im kritischen Rückblick hat Unterzeichner wie folgt festgestellt:
- Bereits mit den ersten Fragen der Moderation waren die Zielsetzung und Schwerpunktsetzung der Veranstaltung vorgeben: im Vordergrund standen die operativen und instrumentellen Objekte der Barrierefreiheit
-
Die planungsphilosophischen und damit letztlich zukunftsweisenden praktischen Fragen
konnten nicht gesetzt werden:
a) wie erlebt der Behinderte das Prinzip „Wildnis“, also jene Unberechenbarkeit und Unbestimmtheit einer unbekannten Umwelt, ein Synonym für schwer erreichbare Landschaft über die normierte Infrastruktur hinaus?
b) Wieviel „Wildnis“ gönnen wir uns?
c) Natur Natur sein lassen ist ja nicht nur ein Petitum an die Wildnis, sondern fragt ja auch zurück nach der Natur des Menschen. Individuelle Beeinträchtigungen stoßen irgendwann an Barrieren, dann ist es eine Behinderung – selbst wenn Vor- und Fürsorge, wenn medizinische, technische oder psychologische Kompetenzen in ethischer Verantwortung auf die Natur des Menschen einwirken.
d) Ist das Versprechen der Barrierefreiheit innerhalb der NLP-Grenzen lediglich eine politische Worthülse? Ist es nicht eher eine „organisierte Wildnis“, die die sozial konstituierte Natur repräsentiert?
Schlussfolgerungen
Es geht also nicht nur um Natur und Wildnis als geografisch-touristisches oder biologistisches Phänomen. Die Architekten, Landschafts- und Stadtplaner lenkt das Thema auf unsere generelle Verantwortung für inklusive Teilhabe. Individuelle Autonomie und soziale Inklusion gehören auf das engste zusammen. Wo auch immer, eben nicht nur im wilden Wald, gibt es Lebenslagen, in denen Menschen - von Krankheit, Behinderung, Demenz oder hohem Alter geprägt - oft weitreichende Unterstützungsleistungen benötigen, um selbstbestimmt leben oder auch entscheiden zu können.
Das hat was mit Grundrechten zu tun, mit der Würde des Menschen, und spätestens da beginnt die Verantwortung des Staates – nicht nur im Nationalpark. Barrierefreiheit ist nicht nur die Beseitigung von Hindernissen. Sie ist Spiegelbild einer „inklusiven Gesellschaft“, einer ozialgemeinschaft, in der das scheinbare Defizit überwunden wird zugunsten einer kulturellen Bereicherung, die uns Wildnis und Landschaft beispielsweise in einer neuen ästhetischen Dimension kennenlernen lassen.
Berufsständischer Auftrag
Aber ich möchte für unseren Berufsstand doch auch die Chance nutzen aufzuzeigen, wie präsent konkrete Verfassungsnormen nach Würde, körperlicher Unversehrtheit und Freiheit uns Planer und Ingenieure - gleichermaßen die politischen Entscheider - auch und gerade diesseits der Nationalparkgrenzen in die Verantwortung für eine gesunde Umwelt nehmen. Es geht eben nicht nur um die plakative Natur und die Wildnis, sondern gleichermaßen auch um die Natur der Stadt, wo auch Teilhabe geboten ist, nämlich an der grundgesetzlich geschützten Verfasstheit vom Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG). Siehe hierzu auch die Ziele der WHO (12/ 2020) zum Wiederaufbau der Städte nach Covid-19 explizit zu gesunden und lebenswerten Städten.
Die aktuellen Impulse in der Literatur und Philosophie unterstützen dieses Bekenntnis. Da gibt es den Juristen und Schriftsteller, Ferdinand von Schirach, der vor dem Hintergrund weltumspannender Gefahren für Umwelt, Kultur und Menschheit zusätzliche Menschenrechte einfordert, die an erster Stelle eine gesunde und geschützte Umwelt sind (Luchterhand 2021).
Ganz aktuell in der Wochenzeitung Die Zeit (Nr. 28 vom 08.07.2021) ein Beitrag von Gernot Böhme, der seine bereits früher publizierten Deutungen von Mensch und Natur in den aktuellen Kontext stellt. Bei aller ästhetischen Wertschätzung von Landschaft und Wildnis sei die Symbiose mit menschlicher Zivilisation utopisch. Der natürliche Feind des Menschen sei heute im mikrobiellen Bereich zu suchen. Das verlangt eher hygienische Anstrengungen, die letztlich kritische Distanz zur wilden Natur erfordert. Was ja aus planerischer Sicht nur die resolute Beachtung und die Verantwortung für beispielsweise die gesetzlichen Naturschutzziele bedeutet.
Der geneigte Zuhörer mag nun denken, dass diese Themen eher aus der Gedankenwelt der Landschafts- und Stadtplanung erwachsen. Aber der Nationalpark ist eigentlich nur der Impetus für eine interdisziplinäre Debatte für alle Fachrichtungen nicht nur in unserer Kammer. Die Beachtung von Inklusion als Rechts- und Sozialprinzip schärft die professionelle Sorge und die emotionale Beachtung des Mitmenschen - eine soziale Reformation mit unabsehbaren Folgen für unser Berufsbild und – aus Sicht eines umsatzorientierten Berufsstandes - möglicherweise auch für unsere ökonomische Verträglichkeit.
Kaiserslautern, den 11.07.2021/ 14.07.2021